Das Schachspiel in Wolfenbüttel

Von Herzog August und Lessing bis zur Gegenwart

Selenus’ Schach- oder König-Spiel

  August II., der Jüngere, 1579-1666, Herzog zu Braunschweig-Lüneburg, Inhaber der Herrschaft Hitzacker, 1635 Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel, gilt allgemein als einer der gelehrtesten Fürsten seiner Zeit. Es sollte demnach nicht unziemlich erscheinen, an sein 1616 unter „Selenus“ veröffentlichtes Schachbuch* einen entsprechenden Maßstab anzulegen.
  Dass man von einem Werk der Zeit nicht den heutigen Lesefluss erwarten darf, erscheint naheliegend. Es entspricht durchaus dem Zeitgeschmack, Sätze stärker zu verschachteln, als man es heute gewöhnt ist. Selenus aber treibt es exzessiv: Der Leser darf damit rechnen, ein gerüttelt Maß an Sätzen mehr als einmal lesen zu müssen, ehe er sie versteht. Der Leser findet auch keine konsequente Strukturierung des Werkes vor. Es erscheint doch naheliegend, dass zuerst die Steine, ihre Gangarten und sonstige Regeln vorgestellt werden, ehe man sich ihrem Zusammenspiel widmet. Selenus aber springt nach Belieben hin und her, verweist mal nach unten, mal nach oben.
  In seinem geschichtlichen Teil geht er überaus ausführlich auf die Entstehung und Geschichte des Schachspiels ein. Dass der belesene Mann dabei beständig auf dem Holzweg ist, scheint er nicht zu merken. Fortwährend zieht er Parallelen zum griechische „Polis“ bzw. dem römischen „Latrunculi“, das mit dem Schach allein gemein hat, dass es ein Strategiespiel ist.** Seine an den Haaren herbeigezogen Ausführungen, die historisch bis in den Trojanischen Krieg zurückreichen, geographisch bis nach Amerika, sorgen – je nach Geschmack – für andauerndes Kopfschütteln oder fortwährende Erheiterung. Es drängt sich geradezu das Urteil auf, dass ihm daran gelegen war, seine Belesenheit zur Schau zu stellen.
  Der praktische Teil ist, abgesehen von taktischen Grundsätzen, für den heutigen Spieler wenig ergiebig, da Selenus nicht die heute geltenden Rochade-Regeln zugrunde legt. • Dietrich Möseler (2019-08-08)

 
*) Das / Schach- oder / König-Spiel. / Von / GUSTAVO SELENO; / In vier vnterschiedene Bücher, / mit besonderm Fleiß, gründ- und / ordentlich abgefasset. / Auch mit dienlichen Kupffer- / Stichen gezieret: / Deßgleichen vorhin nicht außgangen. […] LIPSIÆ [MD]CXVI.
**) Zur Relativierung sei erwähnt, dass dieser abwegige Gedanke noch 1824 zu finden ist: »Sind die Perser die Erfinder dieses Spiels [Schach], so lernten die Römer vermuthlich dasselbe bei ihren Kriegen in Afrika kennen. Sie nannten es Ludum latronum oder latrunculorum […]« Johann Georg Krünitz: Encyklopädie … Berlin 1824, S. 222.

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