Der Name Caissa wird erstmalig in dem Gedicht „Caissa or the game at chess“ (1763) des englischen Sprachforschers und Juristen Sir William Jones (1746-1794) veröffentlicht. Wie er in seinem Vorwort schreibt, war er von dem Gedicht „Scacchia Ludus“ (Das Schachspiel) des italienischen Renaissance-Dichter Marcus Hieronymus Vida (1485-1566) inspiriert, in dem Vida eine Schachpartie zwischen den Göttern Apollo und Merkur beschreibt.
Jones 334-zeiliges Jugendwerk ist reich an barocken Schnörkeln und
Verklausulierungen und daher nicht leicht zu enträtseln. Seiner Länge und Sprache wegen ist es
wohl von den wenigsten gelesen worden. Vermutlich deshalb findet man in einigen Fachbüchern und
zahlreichen Internet-Einträgen Unzutreffendes. Das Gedicht: . Inhaltsangabe:
In stiller Abgeschiedenheit sitzen die
beiden Nymphen Delia und Sirena, umgeben von Agatis, Thyrsis, Sylvia und Daphnis und beratschlagen, wie sie
die Zeit verbringen sollen. Nach dem entschieden ist, sich die Zeit mit einer Partie Schach zu vertreiben,
beschreibt Jones das Schachbrett, die Figuren und ihre Gangart:
Ehrwürdige Könige, die mit mit einem feierlichen Schritt ziehen, Königinnen, die
ein tödliches Schwert in ihrer Hand halten und mal hier hin, mal da hin springen, Bogenschützen
(Läufer), die begierig vorrücken und aus der Schräge die Feinde überfallen, tapfere
Ritter (Springer) auf tänzelnden Rössern, deren Schnellkraft weder Freund noch Feind bremsen kann,
ernste Elefanten (Türme), die die Flanken decken und furchtlose Soldaten (Bauern), deren geschliffene
Speere und stählernen Helme funkeln.
Doch kein Sterblicher hat das wundersame Spiel erdacht! Und Jones beschreibt, wie es zu seiner
Erfindung kam: In der thrakischen Wildnis lebte die blonde Dryade (Baumnymphe) Caissa (Jones Erfindung), die
für ihre Schönheit gerühmt wird. Für sie ist Mars, der Gott des Krieges entflammt, doch
so sehr er drängt, umso finsterer sieht sie drein. Während er allein über die dämmernde
Flur zieht, klagt er einem murmelnden Bach sein Leid. Das hört eine Nixe in ihrem moosigen Bett und
verweist ihn an den Gott Euphron (Jones Erfindung), Bruder der Aphrodite. Mars macht sich zu Euphrons Tempel
auf, der unter den blauen Himmeln schwebt, erzählt ihm von dem in seinem Herz entfachten Feuer und
bittet ihn um eine Gabe, Caissas Herz zu gewinnen. So kommt es, dass Euphron das Schachspiel erfindet und es
nach dem Namen der Dryade „Cassa“ nennt. Indem Mars Caissa das neue Spiel zeigt, das sie
freundlich aufnimmt, endet die Geschichte von Caissa und Mars und Jones kehrt zum ursprünglichen
Personal zurück.
Es beginnt die Partie zwischen den Nymphen Delia (Weiß) und Sirena (Schwarz), deren
Verlauf nur grob skizziert wird. (Die ersten Züge 1. e2-e4 e7-e5 2. f2-f4 e5xf4 sind gerade noch zu
erraten.) Lange Zeit bleibt der Kampf im Gleichgewicht bis Sirena durch eine Springergabel einen Turm
verliert. Sie erbleicht und eine kristallene Träne steht bereit zu fallen, die sie still fortwischt.
Unbemerkt von allen, außer von Daphnis, der ihren Schmerz bemerkt und für sie die Partie
fortsetzt. „Lass mich entweder edel gewinnen oder edel sterben. Mich hat das Schicksal oft mit
schönem Erfolg gekrönt und ließ mich auf dem Feld des Schachs siegen.“ Doch er
kämpft vergebens: Jede seiner Fallen und Listen wird von Delia durchschaut. Sie erobert seine Dame,
wandelt ihren Bauer zur Dame und setzt ihn matt. Daphnis Weisheit und Stärke unterliegen Delias Charme
und Schönheit. Den Spielern und Zuschauern ist das Spiel tief in ihre Brust gelegt.
Das Gedicht wird u.a. in den „Studies of Chess“, die englische Ausgabe der „L’Analyze des Écheces“, des Musikers, Komponisten und stärksten Schachspieler seiner Zeit, François-André Danican Philidor (1726-1795), wiedergegeben. Das Gedicht und somit der Name Caissa wäre wohl ohne diese Wiedergabe unbekannt geblieben.
Rezeption und Bedeutungserhöhung der Caissa als Patronin, Muse oder Göttin (besonders abwegig, da die Antike das Schachspiel nicht kannte) des Schachs liegen im Dunkeln. Als Namensgeberin tritt sie 1870 beim ersten englische Fernschachbund, „The Caissa Correspondence Chess Club“, in Erscheinung. Einer der stärksten französischen Schachclubs und Ausrichter vieler Turniere, der „Cercle d’Échecs Caïssa“, 1939 von Jeanne Le Bey-Taillis in Paris gegründet, benannte sich ebenfalls nach ihr. In Deutschland scheint sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Mode gekommen zu sein. Schon ab Dezember 1946, als Deutschland weitestgehend in Trümmern lag, erschien die Schachzeitschrift „Caissa“ (ab 1949 „Deutsche Schachrundschau Caissa“); im September 1955 ging sie in der „Deutschen Schachzeitung“ auf. – Deutsche Schachvereine mit dem Namen „Caissa“: Berlin-Hermsdorf/Frohnau (gegründet 1949), Schwarzenbach/Saarland (1960), Hamburg-Rahlstedt (1965), Kassel (1971), Wolfenbüttel (1971), Hamm (1981), Schwarmstedt/Hannover (1981), Augsburg (1992) u.a. • Dietrich Möseler (2022-01-07)